Auch im Tal blühen Blumen - Erfahrungsgedichte von Ladina


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Oliver11
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Re: Auch im Tal blühen Blumen - Erfahrungsgedichte von Ladina

Beitragvon Oliver11 » Do 18 Aug 2022 17:08

wirklich schöne Gedichte und bewegend, Ihre Erfahrungen zu lesen

Ladina
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Re: Auch im Tal blühen Blumen - Erfahrungsgedichte von Ladina

Beitragvon Ladina » Fr 4 Nov 2022 20:54

Lieber Oliver
es freut mich zu lesen, dass Ihnen meine Gedichte gefallen und evtl. auch geholfen haben.

Seit ich "gesund" bin, schreibe ich weniger, oder anderes, im gesunden Alltag gibt es weniger zu verarbeiten -und mehr um sich einfach auch still darüber zu freuen.
Aber zu keiner Zeit vergesse ich, was ich hinter mir habe und welch ein Wunder es ist, dass ich hier bin und noch leben darf.

Mit herzlichem Gruss

Ladina

Ladina
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Re: Auch im Tal blühen Blumen - Erfahrungsgedichte von Ladina

Beitragvon Ladina » Fr 4 Nov 2022 21:33

Auf dem Heimweg oder Das Geschenk von Ralf
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Ralf und ich lernten uns in einer Notsituation kennen,
der Not, das Augenlicht unaufhaltsam zu verlieren.

So richtig kennengelernt aber haben wir uns erst,
als im Blindenheim der Sozialarbeiter
das Angebot machte, einen Gesprächskreis zu gründen.

Es hat mich angesprochen, es hat Dieter angesprochen und es hat Ralf angesprochen - wir folgten der Einladung und freuten uns auf eine Möglichkeit, etwas von der Not zu erzählen und irgendetwas mitzunehmen.
Dabei blieb es, es kam niemand weiteres dazu. Wir standen zu dritt vor der Türe zum Besammlungsort, warteten auf den Sozialarbeiter.

Als er kam, sah wohl nur ich mit Sehrest sein langes Gesicht.
"Mehr kommen nicht?" schien er zu fragen.

Wir hätten den Gesprächskreis zu dritt führen können, bzw. zu Viert mit dem Sozialarbeiter, aber er war der Ansicht,
es müssten mehr Erfahrungswege zusammen treffen
um Heilendes, um Versöhnendes zu bringen.

Er schickte uns fort um zu werben um andere Teilnehmer, ihnen Lust zu machen, wir nahmen unseren Job sehr ernst, doch es brachte nichts.
Viele der Schüler im Blindenheim ersäuften ihre Probleme lieber im Alkohol oder glaubten es sinnloserweise zu tun.

"Wir können auch ohne ihn reden. Vielleicht ist es besser so", sagte Ralf ganz ruhig zu mir, nach dem definitiven Aus des Gesprächskreis-Projektes.
Und das taten wir beide dann öfter.

Und es stellte sich heraus, dass er zusätzlich zur Augen-Not noch eine andere sehr gut kannte:
Die Not, einen inoperablen Hirntumor zu haben - genau wie ich auch, mit dem gemeinen Unterschied, dass seiner aktiv war und meiner seit Jahren eingekapselt ruht.

Ich hatte damals noch ein Buchprojekt ,
ein Buchprojekt mit Erfahrungsberichten und Portraits blinder oder erblindender Menschen - aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Ich erzählte Ralf davon persönlich und tat es später vor versammeltem SBH-Kreis.

Ralf war der erste, der mit einen Text von sich zur Veröffentlichung übergab und er blieb in meiner ganzen 1 1/2 Jährigen Schulzeit der einzige.

Diesen so tief beeindruckenden Text von ihm, ich las ihn immer wieder. Er trieb mir Tränen der Rührung in die Augen und ich zog meinen Hut vor ihm,
dem grossen, nachdenklichen, feinfühligen, freundlichen, wissenden, sich freuen könnenden und nach aussen so ruhend in sich wirkenden Ralf.

Wir hatten eine weitere Gemeinsamkeit und darauf aufbauend noch eine:
Wir blieben immer zu lange in der Schule,
so lange, dass sie uns manchmal rauswerfen mussten.
Herr A. hat wohl nicht gesehen, was dahinter für ein Wille zu lernen stand. Auch Sehende können blind sein.

Und dann standen wir da vor der SBH,
im oftmals eindunkelnden Abend,
der mit seinen teils rätselhaften Schatten und Bewegungen
einem seheingeschränkten Menschen Angst machen kann.

Das Tram hielt ja direkt vor der SBH - ein Katzensprung nur wars, aber wir hatten beide das Bedürfnis nach dem langen Sitzen zu Fuss zu gehen -
und genau das taten wir auf dem Weg des südlichen Rheinufers gingen wir zusammen viele Heimwege - ins Blindenheim, mit Schirmen oder ohne - und meistens führten wir tiefgehende Gespräche.
Und er erzählte auch von Sandra,
seiner grossartigen Frau, die bei ihm blieb
und ihn nie das Gefühl gibt, als wäre es eine Last für sie, die Nöte mitzutragen.
Und ich mochte ihm dieses Glück so gönnen.
Und ich nahm mir vor, dieser Frau einmal dafür zu danken, dass sie das alles für ihn war -
für einen der beeindruckendsten Menschen,
die ich auf meinem Weg je kennen lernen durfte.

Das Geschenk, geliebt und angenommen zu sein,
es ist das Grösste, was man in so einer Situation einander schenken kann.
Ich weiss das gut, sooo gut.
Es hilft einem, auch schwere Wege zu gehen,
die man nie gehen wollte,
aber die man dennoch nicht umgehen kann.
Es kann einen mit solchen Wegen versöhnen,
weil da jemand geht, mit einem, immer und überall hin,
real und manchmal auch mit Gedanken begleitend,
immer bis der Abschied kommt.
Ralf war sich dessen bewusst, dass ihm sein Tumor letztlich keine Chance geben würde...

Ich sagte ihm auch einmal, dass ich seine Ruhe, seine Bedächtigkeit sehr schätze, dass ich das auch gerne können möchte, gelassener sein, ohne mich zu belügen.

Und er antwortete mir ruhig: "Ich zeige Dir morgen meine Quelle,
wir sind hier ganz nahe dran, aber die Dunkelheit lässt sie uns jetzt nicht sehen, nur hören ein wenig, aber das Sehen gibt mir mehr. Und ich freue mich, sie mit Dir teilen zu können. Auch Du hast Deine Kraftquellen, Deine Texte mit mir geteilt"

Und so gingen wir das erste Mal bei Tage zusammen einen nur ihm vertrauten Weg - auf die grosse Auto-und Eisenbahnbrücke gleich hinter der SBH und auf dieser Brücke so in die Mitte.

Er sagte:" Noch stören der Lärm hier, die Hektik, nicht wahr?"
Und er sprach mir aus der Seele.
Und dann sah er aufs Wasser und ich tat es ihm gleich.

"Vermagst Du das Fliessen des Flusses zu erkennen?", fragte er.
Ich vermochte es.

"So lasse Deinen Blick schweifen auf dem Fluss, so weit Du den Fliessgang sehen kannst und vertiefe Dich darin und gehe in Gedanken mit, gib dir Zeit und Du wirst sehen und spüren, wie der Lärm hier milder wird, ein Teil Deiner Last von Dir genommen wird, fortschwimmt, mit dem Fluss.
Wie Du befreit sein wirst, wie eine Ruhe in Dich strömt.

Es war im milden Winter 2006, ich weiss es noch, als wärs heute erst gewesen und ich werde es im Leben nie mehr vergessen,
das Geschenk von Ralf.

Er war ein grosser Lehrmeister, ohne je nur eine Spur von Arroganz zu zeigen.

Und es gab noch was dazu, Ralf las meinen Gedanken, der mir gekommen war: Und wenn wir nicht mehr sehen, was dann???

"Dann bewahren wir unsere Augenweiden bildlich als Erinnerung in uns und treten in uns ein, wenn wir es brauchen.
Wo auch immer Du bist, es wird wie ein Heimweg sein..."

Und Ralf hatte so recht.

Ich habe es heute wieder erlebt.
Vor 10 Tagen hat man mir einen Tumor entfernt,
nicht im Kopf - woanders.

Und bevor ich zur Befundsbesprechung im Unispital ging, lenkte ich meine Schritte hinunter zum Rhein und fand eine Stelle, wo man ihn fliessen sehen kann.

Ich vertiefte mich in das sanfte Dahinfliessen, mein Atem wurde leichter und Ruhe trat in mich.

So konnte ich den Weg ins Spital gehen und es kam gut und weit besser noch.

Und kurz nach der Befundsbesprechung sagte mein Professor:
"Kommen Sie, wir gehen gemeinsam an den Rhein."
Das hat er noch nie mit mir gemacht
ich wusste nicht, was kommt.

Er spürte wohl einfach die grosse Not in mir, die sich angestaut hatte und die sich trotz des guten Befundes nicht einfach in Luft auflösen konnte.

Und wie wir da so am Fluss standen, da fragte der Professor plötzlich: "Vermögen Sie das Fliessen des Flusses abwärts zu erkennen?"
Genau so wie Ralf gefragt hatte - wie ein Gruss von ihm, so schön.
Und ich schaute in den Fluss, und spürte es wieder, das Geschenk von Ralf an mich.

Der Professor sagte, er habe das schon mit vielen Tumorpatienten gemacht, eine Patientin hätte ihn darauf gebracht - und einen Moment dachte ich, es sei Ralf, aber er hatte
"Patientin" gesagt.

ich vertraute ihm an, dass ich schon öfter hier war, genau für dieses Loslassen, das hier erleichtert würde.

Und da antwortete mir der Professor: "Ja wissen Sie, die Patientin, die mich darauf brachte, das sind Sie gewesen.
Es ist so einfach und doch so kostbar für die Patienten,
und auch für mich als Arzt."

Und so hat Ralf etwas dagelassen,
das vielen Patienten und ihren fürsorglichen Begleitern.
weiterhilft
wenn es kaum noch geht.

Ralf starb am 15. Oktober 2011 und er ist mir unvergessen, genauso wie sein Ritual am Fluss, das ich immer mal wieder praktiziere. Es ist heilsam und befreiend, kostet nichts und hat nur positive Nebenwirkungen.
Vielleicht kann der Text und das Ritual auch hier im Forum noch manchen einen kostbaren Input geben.

Darum veröffentliche ich zum jetzigen Zeitpunkt den doch sehr persönlichen Text, den ich auch als Trauergedicht an Ralfs Frau gesendet habe mit all dem Dank, den ich ihr schon lange sagen wollte

Den Text habe ich am 28. Februar 2012 geschrieben.
Ladina


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