wahre Mutmachgeschichte für betroffene Kinder


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Ladina
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Re: wahre Mutmachgeschichte für betroffene Kinder

Beitragvon Ladina » Sa 20 Jan 2018 0:30

Hallo zusammen

Diese Geschichte hat der damals 16 Jahre alte Rafael Auer aus Kärnten für einen Wettbewerb aufgeschrieben. Rafael war als Kind selber an Krebs erkrankt und die Geschichte, die er erzählt ist wahr. Und er hat damit im Wettbewerb den ersten Preis gewonnen. Die Geschichte erzählt von einem kleinen Knochenkrebs-Patienten.
Ich darf die Geschichte dank freundlicher Genehmigung der Dt. Kinderkrebsstiftung in Bonn sowie der Österreichischen Kinderkrebshilfe mit Euch teilen. Sie macht ganz viel Mut und ihr dürft sie gerne andern Kindern weitergeben.
Liebe Grüsse
Beatrice

Auszug aus der Zeitschrift Total Normal, Heft 25, 2003


Moritz und das Krokodil

„He, wach auf!“ Ein unsanfter spitzer Ellenbogen stieß gegen meine Seite. „Aua“,
missmutig zog ich den Kopfhörer aus meinem linken Ohr und freute mich, dass mein
Gegen-über sichtlich zusammenzuckte. Was holte es mich aus meinen Träumen. Meine
geliebten Metallica dröhnten durch den Raum.

Ich war wieder einmal zur Nachkontrolle in der Ambulanz der Kinderonkologie in Graz.
Das nervte mich ohnehin, denn immer war meine Familie so angespannt. Mit Mutter
konnte man schon die Wochen vorher nicht mehr richtig sprechen und allein die Fahrt
dorthin war reine Nervensache. Manchmal dachte ich mir, dass sie immer von Vertrauen
sprach und dann keines aufbrachte, zu mir, zu Gott und überhaupt. Ich wusste ja, dass ich
gesund war. Also rein mit den Stöpseln und dann voll aufgedreht. Kein sorgenvoller
Seufzer, kein nervöses Herumhusten und kein „was diesmal wieder für ein Arzt da sein
werde, wohl wieder einer, der von nichts was weiß, und, und, und ...“ drang so zu mir vor.
Ich nenne es Selbstschutz. Abschalten, Augen zu und durch mit guter Musik.

Aber diese innere Ruhe wollte mir der lästige kleine Kerl offensichtlich nicht gönnen. „Puh,
ist das laut“, meinte er, „darf ich?“ Und im selben Moment hatte er meinen Stoppel im
Ohr. „Ich heiße Moritz und du?“ „Max“, log ich und hoffte, dass er dann endlich aufhören
würde zu plappern. Aber nix da, er redete und redete und redete wie ein Wasserfall. Ich
fragte mich, wo er wohl den Knopf haben möge, um ihn abzuschalten, und begann, ihn so
genauer zu betrachten. Er saß auf einem roten Stuhl, der ebenso klein war wie meiner –
auf dem ich aber nur mehr mit einer Pobacke und Knoten auf den Beinen herumlungern
konnte –, und mochte von seiner Größe her so um die acht Jahre alt gewesen sein. Früher
hätte mich sein Aussehen erschreckt und ich hätte mich von ihm abgewandt, so wie es
alle tun, weil sie nicht wissen, wie sie schauen sollen oder aus Angst, was falsch zu
machen, vielleicht fürchten sie sich ja sogar, vom bloßen Anblick krank zu werden. All
diese Gedanken gibt es, das weiß jeder Betroffene. Besonders schlimm ist falsches Mitleid
und die Sicherheit, in der sich manche wiegen, dass ihnen so etwas nicht passieren kann.
Doch wenn man einmal selbst betroffen gewesen ist und das große Glück gehabt hat,
wieder gesund zu werden, schaut man nie wieder weg.

Weder seine Glatze noch sein kugelrundes, von den Medikamenten aufgedunsenes
Gesicht waren für mich befremdend. Das linke Bein war dick verbunden und geschient.
Das rechte Bein fehlte überhaupt. Unter seiner blauen Pyjamahose konnte ich den frisch
vernarbten Stumpf sehen.

Meine linke Hand umklammerte eine seiner Krücken, mit der er im Takt zu meiner Musik
wippte. Mit seiner rechten, besser gesagt, was noch davon übrig war, mit seinen noch
verbliebenen zwei Fingern drückte er auf den Kopfhörer in seinem Ohr, da er immer
herausrutschte. Es war also überhaupt nichts an ihm, was mein Interesse erweckt hätte,
zuviel hatte ich schon gesehen und betrachtete es als normal. Bis, ja, bis mein Blick auf
seinen Schoß fiel. Da lag ein riesengroßer alter Fußballschuh, so in der Größe 45.
Abgewetzt und zerschlissen. Die ursprünglich weiße Farbe war zu einem schmutzigen Grau
mutiert, die blauen Streifen begannen abzublättern. Schuhband besaß er keines und die
Sohle hatte sich bereits vom Schuh gelöst und klaffte auseinander.

Das ist mein Krokodil. Dich scheint es zu mögen, es sieht dich ganz gutmütig an“, sagte
er verschmitzt und siegesbewusst, da er endlich erreicht hatte, meine Aufmerksamkeit zu
erregen.

Tatsächlich waren am Schuh riesige blaue Augen aufgemalt, und wenn ich mir nicht blöd
vorgekommen wäre, hätte ich wohl zugegeben, dass mich das Krokodil tatsächlich gütig
anlächelte.

Nun war Moritz nicht mehr zu halten. „Weißt du“, begann er, „als ich noch gesund war,
habe ich sehr gut Fußball gespielt. Ich war Kapitän der Mannschaft und ein Superstürmer.
In einem Spiel habe ich sogar einmal vier Tore geschossen. Damals besaß ich schwarze
Fußballschuhe. Doch sie waren böse Ratten mit roten Augen und eines Tages begannen
sie an meinen Zehen im linken Bein zu knabbern und fraßen sie bald auf. Als ich im
Krankenhaus lag, kam mein Papa und brachte mir das Krokodil. Es hat mir immer Glück
gebracht und wenn ich wieder gesund bin, werden wir drei zusammen Fußball spielen.
Wenn du wüsstest, wie fleißig Kroko ist, immer wenn es Nacht wird, fängt und frisst es die
Ratten, die an allen hier knabbern. Manuel, mein Freund, durfte schon nach Hause gehen.
Wir haben gesehen, wie Kroko seine böse verfressene Ratte gefressen hat. Und gestern in
der Nacht hat Kroko es endlich geschafft. Es hat Black gefressen, er war der Anführer
meiner Ratten, das letzte und fetteste Tier“ ... „Moritz komm, wir sind dran!“, sagte seine
Mutter.

„OK“, rief Moritz übermütig, packte seine Krücken und humpelte los, das Krokodil in
seinen Hosenbund steckend. „Bis bald“, sagte er noch schnell und er und sein Krokodil
blinzelten mir noch einmal verschmitzt zu. „Ciao“, sagte ich, „und alles Gute euch beiden“.
Wie sehr wünschte ich es diesem kleinen mutigen Helden, dass sein Krokodil wirklich alle
Ratten gefressen hatte.

Doch man sagte mir, dass Moritz leider sehr wenig Chancen hätte auf ein Leben. „Auf ein
Leben, das so schön sein kann nur um seiner selbst willen, auf ein Leben, das
einige wegwerfen“, dachte ich bei mir und schüttelte den Kopf.
Die Zeit verging und zum Leidwesen meiner Lehrer, aber mit meiner Erkenntnis und
Lebensfreude schlug ich mich als Minimalist durch die Schule.

Als ich wieder einmal bei der Nachkontrolle war, wurde ich von einem Bild, das im
Warteraum über einem roten Sessel hing, magisch angezogen.
Das Bild zeigte einen großen Jungen mit langen, dunkelbraunen Haaren im Kapitänsdress
einer Fußballmannschaft. Das Einzige, das ihn von seiner Elf unterschied, war, dass er
eine Beinprothese trug, und vor ihm im Gras lag ein alter Fußballschuh, der aussah wie ein
Krokodil.

Ja, die schönsten Geschichten schreibt das Leben selbst und wahre Helden, die gegen das
Böse kämpfen, gibt es immer und
überall.
Rafael Auer


Ungekürzte Fassung
Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift „Die SONNE“
Hrsg.:
Deutsche Kinderkrebsstiftung,
Adenauerallee 134
53113 Bonn
http://www.kinderkrebsstiftung.de

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